Definitiv im falschen Film…
Fast täglich werden wir damit konfrontiert, wie verschieden wir Menschen heute sind, wie die Meinungen vieler Leute weit auseinandergehen und dass es unterschiedliche Lebensformen gibt. Die Vielfalt an Möglichkeiten, die uns in fast allen Lebenslagen zur Verfügung stehen, machen uns zu ausgeprägten Individualisten. Gemeinsamkeiten finden wir während eines Gesprächs in einer lockeren Runde, doch wenn es um etwas Grösseres, Handfestes geht, das uns unter Umständen dazu zwingt, Kompromisse einzugehen und vielleicht sogar die eigenen Bedürfnisse einem übergeordneten Gesamtinteresse zu unterstellen, ja, dann ist Schluss mit gemeinsam.
Bereits alltägliche Situationen verdeutlichen dies, wie ich zuletzt während des Besuchs eines Eishockeyspiels wieder einmal treffend feststellen durfte. Da sitzen wir (meine Frau, ich und ein paar Kollegen) auf der Tribüne in der zweiten Reihe. Vor uns eine muntere Truppe von etwa sechs Personen. Während für uns das Eishockeyspiel im Mittelpunkt stand, schienen sich die Leute vor uns nur am Rande für das Spiel zu interessieren. Sie pflegten während der Partie lauthals Konversation. Doch nicht genug damit, ständig bewegte sich jemand von ihnen, stand jemand auf, gestikulierte, kamen neue Leute hinzu, die um-armt und willkommen geheissen wurden.
Das ging eine Zeitlang so, bis mein Sitznachbar die Fassung verlor und in barschem Ton die Truppe vor uns aufforderte, endlich Ruhe zu geben und vor allem sitzen zu bleiben, weil das ständige Getue störend sei. Oha «Lätz», das kam aber gar nicht gut an. Genervt drehten sich etliche Personen der Gruppe um und zeigten sich entsetzt über diese – ihrer Meinung nach – völlig deplatzierte Zurechtweisung. Mein Sitznachbar wurde gefragt, ob es ihm noch gehe, was denn in ihn gefahren sei und überhaupt, sei ja gar nichts passiert. Meine Frau schaltete sich in den Disput ein und erklärte den Herrschaften (und ja, auch Frauschaften waren dabei, damit alles seine genderkorrekte Form hat…), dass sie mit ihrem Verhalten tatsächlich stören würden. Die Quintessenz dieser kurzen Auseinandersetzung war, dass die Truppe zum letzten Drittel zehn Minuten nach Beendigung der Pause erschien, sich zu ihren Sitzplätzen durch- zwängte und erneut zum Störfaktor für die vielen hinter ihnen sitzenden Zuschauern wurde…
Wundert uns das. Nein, nicht wirklich, weil ich letzte Woche einmal mehr feststellen durfte, wie eine bekannte Schule in der Stadt Bern, Beamten, Behörden und Polizei seit Jahren auf der Nase herumreitet, ohne tiefgreifende Konsequenzen. Da war doch in den Medien zu lesen, dass der Gastrobetrieb des Kulturzentrums Reitschule Bern seit fast fünf Jahren keiner Kontrolle mehr unterzogen wurde, weil die Gastrobetreiber der Reitschule keine Anrufe der Kontrolleure entgegennehmen und damit Kontrollen verunmöglichen. Und bei unangemeldeten Kontrollen wird den Kontrolleuren der Zugang zur Reitschule kategorisch verwehrt.
Das hat bei den städtischen Politikern in Bern für Diskussionen gesorgt, aber nicht für Konsequenzen. Dass man von linker Seite zu hören bekommt, man solle endlich mit den ständigen Angriffen und haltlosen Anfeindungen gegenüber der Reitschule aufhören, nimmt man mittlerweile schulterzuckend zur Kenntnis. Dass je-doch Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) vor laufender Fernsehkamera zu verstehen gibt, dass man sich erst in der letzten Stadtratssitzung ausführlich mit der Reitschule beschäftigt habe, weshalb er es nicht für nötig finde, die Institution bereits wieder auf die Traktandenliste zu setzen, hat bei mir den Eindruck erweckt, dass ich mich tatsächlich im falschen Film befinden muss.
So ist das also, wenn man sich immer wieder mit einem Störefried befassen muss, dann will man sich irgendwann einmal nicht mehr mit ihm herumschlagen, obwohl er nachweislich Gesetzesverstösse begeht, während andere sich an die Vorschriften halten. Ob ein Verhalten moralisch unkorrekt (Eishockeymatch) oder gar gesetzeswidrig ist (Reit-schule) wird mittlerweile sehr individuell bewertet. Das Resultat dieser Haltung ist allerdings nicht individuell, sondern eindeutig: Eine Gesellschaft, mit Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse schonungslos ins Zentrum rücken, auf Kosten des Gemeinwohls. Warum auch nicht, denn mittlerweile tolerieren wir ja fast alles, obwohl vieles gar nicht tolerierbar ist.
Walter Ryser
Redaktioneller Mitarbeiter